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Viel Farbe, wenig Entschlossenheit: 365 Tage «Velorouten-Initiative»

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Felix Schindler, Thomas Hug
September 25, 2021

Heute vor einem Jahr sagten 70 Prozent der Bevölkerung der Stadt Zürich Ja zur «Velorouten-Initiative», welche die Bereitstellung eines Vorzugsrouten-Netzes in der Länge von 50 Kilometern in der Gemeindeordnung festschreibt. Ein guter Zeitpunkt für eine Analyse der Velomassnahmen der Stadt.

 

1. Wie viele Kilometer Velorouten hat die Stadt im letzten Jahr eröffnet? 

Nicht einen einzigen Meter. Das ist nicht sehr erfreulich, doch ein Verstoss gegen eine rechtliche Bestimmung ist es auch nicht. Die Initianten forderten zwar bis Ende 2021 die Realisierung der ersten fünf Kilometer des Veloroutennetzes, doch der Initiativtext lässt der Stadt für die Umsetzung 10 Jahre Zeit. Zudem ist der Stichtag nicht der 27. September 2020, sondern der 1. Juli 2021 – dann ist die Initiative in Kraft getreten.

Das heisst: Wenn am 31. Juni 2031 ein Netz mit 50 Kilometern Veloschnellrouten eröffnet, die in der Regel vortrittsberechtigt und frei von motorisiertem Inidividualverkehr sind, hat die Stadt die Initiative erfüllt. Das einzige, was die Stadt jedes Jahr abliefern muss, ist ein Zwischenbericht. Doch auch für diesen hat sie noch bis zum nächsten Sommer Zeit. Rechtlich gesehen gibt es also keinen Anlass zur Kritik.

Allerdings: Die Bevölkerung der Stadt Zürich nahm schon vor 37 Jahre eine Initiative an, die 200 Kilometer Velorouten verlangte. In den letzten 13 Jahren forderten die Stimmbürger an mindestens fünf weiteren Abstimmungen direkt oder indirekt eine Abkehr der autozentrierten Verkehrspolitik und eine Priorisierung der aktiven Mobilität*. Das ist bisher noch nicht geschehen. Es wäre ein Gebot des Respekts gegenüber den Bürgern dieser Stadt, schnell Resultate zu liefern.

2. Aber Halt! Die Baslerstrasse!

Richtig. Die Stadt hat die Baslerstrasse im Rahmen von Sofortmassnahmen noch Ende 2020 umgestaltet. Dafür sind 77 Parkplätze aufgehoben worden und mit gelber Farbe Radstreifen markiert. Das entspricht nicht den Vorgaben für Veloschnellrouten, die «grundsätzlich frei vom motorisierten Individualverkehr» sein müssen. Die Massnahmen führen auch nicht zu einer substantiellen Verbesserung der Situation, ein Abschnitt qualifiziert jetzt für die VelObserver-Bewertung «knapp daneben», der Rest der Baslerstrasse ist nach wie vor «schlecht».

Zur Eröffnung der umgestalteten Baslerstrasse verschickte die Stadt eine Medienmitteilung mit dem Titel «Zürich setzt ein Zeichen für sichere Velorouten». Das zeigt, wie weit die Standards der Stadt von international anerkannten Best-Practice-Standards abweichen und – noch wichtiger – von den Erwartungen der Bevölkerung. Allerdings wird die Baslerstrasse noch weiterentwickelt: Geplant sind grösstenteils zwei Meter breite Velostreifen, eine weitgehende Vortrittsberechtigung der Velofahrerinnen sowie eine Reduktion des Autoverkehrs. Für eine abschliessende Beurteilung ist es deshalb noch zu früh.

3. Die Lichtblicke

Keine Frage: Es bewegt sich was in Sachen Velopolitik. Die Stadt ist in vielen Bereichen aktiv und erzielt tatsächlich Verbesserungen. Einige Lichtblicke: In ihrer neuen «Velostrategie 2030» hat die Stadt ein Veloroutennetz in der Länge von 120 Kilometer vorgesehen und präsentierte im Sommer auch einen Netzplan, an dem es nichts auszusetzen gibt. Punktuell sind Massnahmen realisiert worden, die das Vorankommen mit dem Velo vereinfachen, namentlich am Bucheggplatz und in der Unterführung Langstrasse.

Auf ungefähr zehn Strassenabschnitten sind neue Velostreifen aufgebracht worden. Das neue Veloexpressteam mit fünf Mitarbeitern hat die Arbeit aufgenommen und schliesst Lücken im Velonetz mittels Sofortmassnahmen. So sind schnell und unbürokratisch Verbesserungen realisiert worden – zum Teil auf Kosten der Parkplätze. Die Bereitschaft, Fläche von stehenden Autos in Fläche für velofahrende Menschen umzuwidmen, zeigt, dass in der Verwaltung ein Umdenken stattgefunden hat.

4. Die Schattenseiten

Trotz einiger Lichtblicke: 94 Prozent des geplanten Veloroutennetzes sind gemäss VelObserver-Kriterien nicht genügend ausgebaut. Die meisten Velofahrenden fühlen sich in Zürich so unsicher wie eh und je und es gibt keine Anzeichen dafür, dass die rasante Zunahme der Velounfälle gestoppt wird – aufgelegte Pläne zeigen zudem, dass in Zukunft keine grundsätzliche Abkehr von dieser Politik zu erwarten ist.

Bauliche Massnahmen: Fehlanzeige

Ein Missstand brachte der Mitgründer des niederländischen Stadtplanungsbüro «Humankind» vor drei Wochen auf den Punkt. Anlässlich eines Besuches in Zürich schrieb Lior Steinberg auf Twitter: «Ich wollte eine Analyse der Fahrradinfrastruktur von Zürich machen, aber mir wird langsam klar, dass ich hier nicht viel mehr als ein paar aufgemalte gelbe Linien finden werde.»

Tatsächlich beschränken sich die Velomassnahmen bis heute weitestgehend auf Velostreifen, die keinen Einfluss auf die Verkehrssicherheit haben. Studien belegen den positiven Effekt von physisch abgetrennten Velowegen auf die Sicherheit – nicht nur für Velofahrer, auch für alle anderen. International haben sie sich längst als Best-Practice durchgesetzt, auch Schweizer Städte wie Bern erzielen damit in kurzer Zeit enorme Verbesserungen für den Veloverkehr. Das Tiefbaudepartement verzichtet nicht nur auf bauliche Massnahmen, sie baut abgesetzte Radwege sogar zurück, wie die Auflage eines Projekts an der Kornhausstrasse zeigt.

Dooring-Zone vermeiden: Fehlanzeige

Auf anderen zukünftigen Vorzugsrouten weisen die Planauflagen darauf hin, was uns in Zukunft erwartet. Ein Beispiel der jüngeren Vergangenheit ist die Rautistrasse. Eine untypische Strasse für Zürich, da hier für einmal keine Platzknappheit herrscht. Trotzdem sollen hier Velostreifen weiterhin in der Gefahrenzone von parkierten Autos zu liegen kommen. Die Velofahrenden werden in einer Zone fahren, wo sie von sich öffnenden Autotüren empfindlich verletzt werden können.

Nicht nur auf der Rautistrasse: Auch beim Bahnhof Wiedikon oder an der Baslerstrasse wurde weiterhin Veloinfrastruktur direkt in die Dooring-Zone gelegt. Das sollte generell nicht so geplant werden – für Vorzugsrouten ist es aber eindeutig ein absolutes No-Go.

Knoten velofreundlich planen: Fehlanzeige

Kürzlich wurde der Mediensprecher des Tiefbauamts der Stadt Zürich, Roger Schaad, von SRF auf den VelObserver angesprochen. Dabei kritisierte er, dass der VelObserver aktuell nur offene Strecken bewerte und keine Knoten – die Stadt aber besonderes Augenmerk auf die Knoten lege. Eine berechtigte Kritik. Allerdings: Von diesem «Knoten-Fokus» der Stadt ist kaum etwas zu sehen. Negative Beispiele finden sich zuhauf: Die Kreuzung Affoltern-/Birchstrasse wird aktuell umgebaut, sie dürfte eine wesentliche Rolle spielen im Velonetz von Zürich Nord, verbindet die Kreuzung doch die Achsen nach Affoltern mit dem Bahnhof Oerlikon und zum Bucheggplatz. Würden wir den entstehenden Knoten bewerten, läge eine genügende Bewertung in weiter Ferne. Gleiches auch in Altstetten: Hier lagen Pläne zum Knoten Aargauer-/Max-Högger-/Vulkanstrasse auf, wo sich Vorzugsrouten aus allen Richtungen in Zukunft treffen sollen. Verbesserungen für den Veloverkehr? Fehlanzeige.

Autokapazitäten abbauen: Nur zaghaft 

Ein weiterer Missstand der städtischen Verkehrsplanung zeigt sich exemplarisch an der neu gestalteten Unterführung Langstrasse: Dort existieren jetzt zwei Radstreifen, was grundsätzlich zu begrüssen ist, obwohl auch sie nicht baulich abgetrennt sind. Allerdings wurde dafür nicht eine Autospur aufgehoben, sondern eine Busspur, deren Kapazität um ein Vielfaches höher ist. Das zeigt, dass die Flächen des fliessenden Autoverkehr noch immer praktisch unantastbar sind. Ein zweites Beispiel ist die Mühlebachstrasse, die zum Netz der Vorzugsroute gehört – Pro Velo muss dort auf dem Rechtsweg dafür kämpfen, dass die Gestaltung der Route mit dem Text der Velorouten-Initiative konform ist.

5. Welche Faktoren ausserdem wichtig sind

Verkehrsunfälle: Keine Anzeichen für eine Trendwende Im Jahr 2020 ist die Zahl der Verkehrsunfälle stark angestiegen – bereits seit zehn Jahren in Folge. Es gibt auch in diesem Jahr keine Anzeichen dafür, dass es eine Korrektur dieses inakzeptablen Trends gibt. Das hat einerseits mit der starken Zunahme des Veloverkehrs zu tun, andererseits mit den Bedingungen, in denen bereits geringe Fehler (von allen Verkehrsteilnehmern) zu fatalen Ergebnissen führen. Die Antwort darauf kann nur lauten: Die Infrastruktur muss sich rasch verbessern und Fehler tolerieren, der Massstab dafür muss die körperliche Unversehrheitheit der Menschen sein.

Velohandel: Auch 2021 mehr neues Velos Letztes Jahr wurden in der Schweiz erstmals mehr als eine halbe Million Velos verkauft, 171'000 davon mit Elektromotor. Diese Entwicklung setzt sich auch in diesem Jahr fort – die Zahlen der eidgenössischen Zollverwaltung zeigen, dass im ersten Halbjahr 16,5 Prozent mehr E-Bikes importiert wurden als in der Vorjahrsperiode. Damit sind rund 9 Mal so viele E-Bikes verkauft worden wie E-Autos (die mit staatlichen Subventionen gefördert werden).

Nach 37 Jahren ist die Bevölkerung ungeduldig geworden Kurz nach der Abstimmung über die «Velorouten-Initiative» stimmten die Bürger der Stadt Zürich über den Velotunnel unter dem HB ab und nahmen ihn mit 74 Prozent Ja-Stimmen an. Jeweils am letzten Freitag im Monat fahren Tausende Velofahrer gemeinsam durch die Stadt, am 22. September beteiligten sich laut Veranstaltern rund 5000 Teilnehmer an der bewilligten Demonstration «Ride for your Rights». Neben VelObserver engagieren sich zivilgesellschaftliche Bewegungen ehrenamtlich und freiwillig für eine aktive, sichere und klimaschonende Mobilität, namentlich Veloradio, Velo-Mänsche und Velorution. Was wir in Zürich erleben, findet so oder ähnlich in unzähligen Städten statt. Die Bewohner der Städte wollen einen Teil der Fläche zurück, die vor Jahrzehnten dem Auto überlassen wurde. Sie prägen den öffentlichen Diskurs und erhöhen den Druck auf die Verwaltung.

6. Fazit: Stillstand überwiegt 

Trotz einiger Lichtblicke: Angesichts der Planauflagen zeigt sich, dass auch der Druck aus der Bevölkerung wenig Einfluss auf Qualität der Massnahmen hat. Auf der Strasse dominiert der Status Quo, auch die Planauflagen lassen wenig Zuversicht aufkommen. Solange die Stadt an überholten Planungsdogmen festhält, ist nicht ersichtlich, wie die Veloinfrastruktur eine genügende VelObserver-Bewertung erreichen kann. Vor allem aber werden die Vorzugsrouten so die Bedingungen der «Velorouten-Initiative» nicht erfüllen können.

Die Gesellschaft ist aktiv und scheint eine klare Vorstellung zu haben, wie sich die Veloinfrastruktur verändern muss. Dafür setzen sich verschiedene zivilgesellschaftliche Bewegungen ein – der VelObserver versucht, diesen Forderungen ein Gesicht zu geben. Statt alleine weiterzugehen: Weshalb nicht zusammenarbeiten, liebe Stadt Zürich? Zusammen sind wir stärker, und letzten Endes wollen wir alle das Beste für Zürich.

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*Städtische Abstimmungen zur Verkehrspolitik 

  • 1984: «Veloweg-Initiative» (76% Ja-Stimmen)
  • 2008: 2000-Watt-Gesellschaft (76%) 2011: Städte-Initiative (52%)
  • 2015: Gegenvorschlag zur «VI für sichere und durchgängige Velorouten» (63%)
  • 2020: Nein zum Rosengarten-Tunnel (71% Nein-Anteil in der Stadt Zürich)
  • 2020: VI «Sichere Velorouten für Zürich» (71%)

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